Ludwig Wittgenstein – Die Vorstadt unserer Sprache

– Emanzipation der Neologismen ? –

Über Wortneuschöpfungen ausgehend von Wittgensteins Stadtmetaphorik der Sprache. Ist dieses Bild in unsere Zeit übertragbar?

„Jener philosophische Begriff der Bedeutung ist in einer primitiven Vorstellung von der Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, zu Hause. Man kann aber auch sagen, es sei die Vorstellung einer primitiveren Sprache als der unsern:
Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines
Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. -Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.“ (Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Teil 1, Nr. 2)

„Sehen wir eine Erweiterung der Sprache an. Außer den vier Wörtern »Würfel«, »Säule«, etc. enthalte sie eine Wörterreihe, die verwendet wird, wie der Kaufmann in die Zahlwörter verwendet (es kann die Reihe der Buchstaben des Alphabets sein); ferner, zwei Wörter, sie mögen »dorthin« und »dieses« lauten (weil dies schon ungefähr ihren Zweck andeutet), sie werden in Verbindung mit einer zeigenden Handbewegung gebraucht; und endlich eine Anzahl von Farbmustern. A gibt einen Befehl von der Art: »d-Platte-dorthin«. Dabei lässt er den Gehilfen ein Farbmuster sehen, und beim Worte »dorthin« zeigt er an eine Stelle des Bauplatzes. B nimmt von dem Vorrat der Platten je eine von der Farbe des Musters für jeden Buchstaben des Alphabets bis zum »d« und bringt sie an den Ort, den A bezeichnet. Bei anderen Gelegenheiten gibt A den Befehl: »dieses-dorthin«. Bei »dieses« zeigt er auf einen Baustein. Usw.“ (Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Teil 1, Nr. 8)

„… denn dies sind, sozusagen, Vorstädte unserer Sprache. (Und mit wieviel Häusern, oder Strassen, fängt eine Stadt an, Stadt zu sein?) Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Strassen und mit einförmigen Häusern.“ (Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Teil 1, Nr. 18)

Gerade der letzte Abschnitt hat mich schwer beeindruckt und zum Nachdenken gebracht. Sehr gelungen, wie er mit (Nennen wir es „Stadtmetaphorik“) die Entstehung und Entwicklung der Sprache beschreibt. So ist weiter zu betrachten und zu beachten, aus welcher Zeit Ludwig Wittgenstein stammt: Er vollendete seinen Tractatus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und starb wenige Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs (1951). Eine Zeit, in der Städte durch die voranschreitende Urbanisierung regelrecht explodierten. Genau diese „Explosion“ ist heute wiederzusehen: Im Internet – Heute vermischen sich auf sprachlicher Ebene Sprachen, Dialekte und Bilder. Formen Deutsch und Englisch so also eine neue Sprache? – Denglisch? – Imageproblem.

Fortschreitende Vernetzung, Globalisierung und Urbanisierung sind wohl nur einige Gründe für diese Entwicklung. Genau diese Vernetzung oder Vermischung bringt neue „Gewinkel von Gässchen und Plätzen“: Um es wieder auf unsere Ebene des Bauenden und Gehilfen zu bringen: So reicht dem Bauenden seine vorhandene Sprache von Würfeln, Säulen, Platten und Balken nicht mehr aus. Er bedient sich folglich Neologismen und Fremdsprachen: So rasch, dass der Gehilfe nicht schnell genug lernt und zwangsläufig Fehler macht und erst lernen muss mit Cube, Stack und co hantieren zu können. Gerade Metaphern und Sprichwörter aus anderen Sprachen können die Sache für den Bauenden und den Gehilfen ganz schön kompliziert machen. „Es regnet Katzen und Hunde“.

Weiter ist kritisch zu betrachten, dass die zunehmende Kommunikation über das Internet ohne die Verbindung „mit einer zeigenden Handbewegung“ stattfindet. (Videochats und Emoticons mal ausgeschlossen) Auch das ist eine neue Ebene des Sprachgebrauchs.

Wo vorher eine einfache Handbewegung oder ein Kopfnicken ausgereicht hat, brauche ich nun eine genau Beschreibung oder Definition in Form von Sprache. Die damit einhergehenden Missverständnisse oder Kommunikationsprobleme sind selbstverständlich. Woher soll der Gehilfe ohne die notwendige zeigende Handbewegung wissen, wohin er die Platten legen soll? Diese Probleme, Fehler oder Missverständnisse gibt es sicherlich schon seit tausenden Jahren. Zu Beginn war das Schreiben und einhergehend das Lesen, nur einem sehr elitären Kreis an Menschen vorbehalten. Erst als die Schrift durch den Buchdruck und die Alphabetisierung „Massenkompatibel“ wurde, weitete sich diese Problematik vom „Gesagten“ und „Gemeinten“ erst so richtig aus.

„Wann fängt eine Stadt an, Stadt zu sein?“ – Berechtigte Frage. So stellt sich mir die Frage, ob all die Wortneuschöpfungen, die das Internet und alle Neuzeit-Phänomene so mit sich bringen, schon stark genug sind, um ein eigener Slang, Jargon oder sogar Subsprache zu sein? – „Eine eigene Stadt zu sein“. Oder bedienen sie sich nur der Sprache(n) um so ein Teil der „alten“ Sprache zu sein? Dann seien es also nach Ludwig Wittgenstein neue Vororte mit geraden und regelmäßigen Strassen und mit einförmigen Häusern“.

In diesem Zusammenhang passt dieser Vergleich von Städten und Sprachen auf die heutige Entwicklung der Sprache meiner Meinung nach nicht mehr. Für mich sind alle neugeschaffenen „Neuerfundenen“ Wörter, welche ja, wie eben erklärt, aus allerlei Sprachen und Richtungen zusammengebastelt werden, alles andere als gerade, regelmäßig und einförmig. Um in Ludwig Wittgensteins Bild zu bleiben, müssten die Vororte, die regelmäßigen Straßen und die einförmigen Häuser nach meiner Einschätzung heute umso unregelmäßiger und unterschiedlicher sein. Der Grund dafür ist nach meiner Einschätzung die Vielseitigkeit der Kommunikationswege und die Masse an Kommunikation im Internet. Dadurch ist die Definition beziehungsweise Suche eines Wortstamms häufig schwierig.

„Zubauten aus verschiedenen Zeiten“ (Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Teil 1, Nr. 18)

Dieser Zitatschnipsel zeigt uns, dass die Vermischung von Alt und Neu und der Erhalt alter Wörter und Strukturen, feste Bestandteile dieses „Stadtgebildes“ sind.

So wäre es interessant einmal zu untersuchen, ob die Anzahl der Neologismen welche in den letzten 25 Jahren durch das Internet entstanden sind exorbitant höher ist, als die Anzahl der in den Jahrzehnten davor Entstandenen.

Versetzen wir uns einmal in die Zeit bevor es das Tele- (Altgriechisch: „Fern“) Fon („Stimme, Sprache“) gab. Ich denke, dass der Aufwand, welcher mit der Kommunikation über eine größere Entfernung zusammenhing (Boten, Brieftauben, Postkutschen, etc.) häufig zu groß war. Dies dürfte ein Grund sein, warum die Vermischung der Sprache und die Anzahl der daraus resultierenden Neologismen relativ begrenzt war.

Oder nehmen wir die Zeit, in der Ludwig Wittgenstein lebte: Wie kamen damals Neologismen zustande? Voranschreitende Industrialisierung und der Boom an neuen Patenten und Technisierung brachten eine Menge an neuen Erfindungen und folglich auch eine Vielzahl neuer Wörter hervor. Die Skepsis vieler Menschen vor Technisierung und ständigen Neuerungen war der Auslöser dafür, dass Wortneuschöpfungen eine gewisse Zeit brauchten, um Verwendung zu finden. Heute reicht schon ein mittelmäßiger deutscher Gangster-Rap Track aus, um Wörter wie „Babo“ zum Jugendwort des Jahres zu machen und fest in den Wortschatz vieler Jugendlicher zu integrieren.

Doch wie stabil sind diese Häuser oder wie praktisch ist diese Straßenführung?
Auf den ersten Blick sind Neologismen eine Bereicherung für die Sprache. Sie dienen als notwendiges Mittel für Neues. Sie dienen als Ergänzung, als Verbesserung oder sogar als Optimierung der Begrifflichkeit einer detallierteren Betrachtung. Anderseits können mehr oder minder emanzipierte (In der Gesellschaft angekommene) Neologismen zu Problemen zwischen Sender und Empfänger führen. Bildlich betrachtet also Probleme zwischen dem Bauenden und dem Gehilfen. So kann es passieren, dass Wörter vom Großteil der Gesellschaft schlichtweg nicht oder falsch verstanden werden, wenn Wörter noch „zu neu“ also den meisten Leuten noch unbekannt sind.

So könnte man also davon ausgehen, dass das Verwenden von Neologismen sehr kritisch zu sehen ist und sie das Gebilde der Kommunikation leicht zum Einsturz bringen könnten. Gerade, wenn es um die direkte Umsetzung geht. (Also das direkte Handeln auf Anweisungen in Form von Sprache) Trotzdem sollten wir die Zwickmühle im Hinterkopf behalten: „Waren nicht alle Wörter irgendwann mal Neologismen?“

Was aber, wenn es Wörter gibt, welche die zeigende Handbewegung, welche zur richtigen Ausführung ebenfalls unabdingbar ist, ersetzen könnten?
Würde es sich lohnen diese „Wortneuschöpfungen“ einzubringen und versuchen zu etablieren? Jeder Versuch ein neues Wort fest in den Wortschatz der Menschen zu integrieren birgt ein gewisses Risiko. Trotzdem gilt hier ein klares „JA!“, da die Vergangenheit gezeigt hat, dass Neologismen meist eine Bereicherung der Sprache bedeuten.

Dann müsste der Bauende theoretisch betrachtet gar nicht mehr anwesend sein und könnte alle notwendigen Befehle oder Anweisungen über Telefon, Bote, Brieftaube, Fernmelder, Telegramm, Brief, Postkarte, etc… geben. So bringt jedes „neue“ Wort die Möglichkeit einher Prozesse, Beschreibungen oder Dinge einfacher zu gestalten oder besser zu beschreiben. Abschließend kann ich sagen, dass Wittgensteins Vergleich der Sprache mit Städten in den Grundzügen heute immer noch zutreffend ist, wir aber durch die vorangegangenen Punkte keineswegs mehr regelmäßige Straßen und einförmige Häuser haben.

Heute bewegen wir uns vielmehr über- und unterirdisch auf sehr unregelmäßigen Straßen auf denen mehrförmige Häuser aus verschiedenen Jahrhunderten stehen. So kann es sein, dass hier ein Haus aus dem barocken Baustiel neben einem modernen Hochhaus steht.

Tobias Kemper, Februar 2015

Quellen

– „Neologismen“ von Hilke Elsen, 2. Auflage: Gunter Narr Verlag, 2004
– L. Wittgenstein – http://www.geocities.jp/mickindex/wittgenstein/witt_pu_gm.html (Zuletzt eingesehen am 3.07.2015)