Euphorie ist für mich eine sehr persönliche, wenn nicht sogar intime Angelegenheit. Es ist der Zustand, in dem Kontrolle über Gedanken, Emotionen nicht gelingt, ich meiner eigenen Begeisterung und Fassungslosigkeit unterworfen bin und mein innerstes Ich zutage kommt. Ich fühle mich stark, selbstsicher, bin überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, und akzeptiere selbst die negativen Umstände im eigenen Leben. Die Gründe für ein solches Befinden können die unterschiedlichsten sein, jedoch entspringen und offenbaren sie alle Grundzüge eines Charakters – sie sind identitätsbildend.
Es war Mittag, ich hatte gegessen und hörte eine Sendung im Deutschlandfunk Kultur: Interpretationen. In dieser Ausgabe wurden die Klavieretüden von György Ligeti diskutiert, verglichen, analysiert.
Bis dahin kannte ich hauptsächlich orchestrale, chorale Musik von Ligeti, vereinzelt auch solistische wie die Cello Sonate oder für Klavier die „Musica ricercata“. Von den Étuden kannte ich bisher Nr. 5, 6 und 7 – alle drei hörte ich das erste Mal sogar live im Konzert.
Dementsprechend unvorbereitet traf mich in dieser Sendung Étude Nr. 4 – Fanfares, interpretiert von Yuja Wang. Dass sie mich „traf“ liegt daran, dass ich ab der ersten Sekunde in einen Bann gezogen wurde, der meine Sinne in jeglicher Hinsicht ansprach. Die Musik drückte genau das aus, wonach sich mein inneres Ohr richtet, sie passte quasi exakt in mein Denkmuster, fuhr wie ein Blitz durch meinen Kopf, der an meiner hinteren Schädelinnenseite anfängt zu schaben. Dieses Sinnerlebnis wurde für mich so intensiv, sodass ich es kaum glauben konnte, welche Musik ich gerade hören durfte. Berauscht verfolgte ich das Stück über die Zeit, der musikalische Grundgedanke erschloss sich mir sofort klar und deutlich. Das ständig hastende Ostinato liegt in unglaublich lässiger Attitude mal unter, mal über den immer expressiver rufenden Fanfaren, die sich in asymmetrisch akzentuierten Verwachsungen zu lebhaft-triumphierenden Entladungen entwickeln. Dieses in sich verzahnte Fließen bewahrt sich selbst in extremen Lagen, egal aus welchem Blickwinkel man das Ostinato im Raum betrachtet. In langen, dennoch zerstückelten Atemzügen formen sich verschiedenste Identitäten über bzw. unter dem Grundpuls. Sie kollidieren, entfernen sich voneinander, lassen im scheinbar unbewegten Bild immer neue Muster erkennbar machen. Einer meiner Lieblingsmomente stellt die gegen Ende des Stückes auftretende Augmentation des Pulses dar, die die bisher durchweg fließende Energie staut, verhärtet und sie auf einen Höhepunkt fallen lässt. Von der Musik vollkommen überwältigt und aufgeladen in höchster Erregung und Freude, endete das Stück.
Besonders toll finde ich zudem die Tatsache, dass diese Musik auch „nebenbei“ gehört werden könnte, da der Abstraktionsgrad meiner Meinung nach weniger stark ausgeprägt ist. Sie bietet dafür zu jeder Sekunde Anknüpfungsmöglichkeiten, sich gedanklich in einem Strom aus geschickt-kombinierten, gehaltvollen Materialien treiben zu lassen, sich von ihr leiten und wegtragen zu lassen.
Als ich ein paar Wochen später in einem Notengeschäft den ersten Band der Ligeti Étuden in meinen Händen hielt, war klar: Ich will diese Musik spielen! Selbst wenn ich kein herausragender Pianist bin und wahrscheinlich kaum das Niveau der Aufnahme ertasten kann, erfüllt mich dieses Stück so immens, dass in dieser Hinsicht für mich allein der Spaß, die Freude und Liebe zur Musik zählt. Der Gedanke, selbst beobachten zu können wie sich diese Musik unter den eigenen Händen im Laufe der Zeit zusammensetzt, reizte mich doch zu sehr, als dass ich in Ehrfurcht erstarrte. Für Klavierstudierende heißt es ja oft diese und jene anspruchsvolle Beethoven oder Mozart Sonate im Studium gespielt haben zu müssen – für mich, als Person, die nicht in Vollzeit instrumental studiert und eher dem 20. und 21. Jahrhundert in der (Klavier-)musik zugewandt ist, wird es eben diese Ligeti Étude sein, die mir gegebenenfalls die Finger brechen und mich auf höchstem Niveau fordern soll.
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