Hörsalon #47: Romantische Themen in aktueller elektronischer Musik

Romantik! Liebe, Tod, Melancholie, Natur, Unendlichkeit, Weltschmerz, Nichts, Traum und Albtraum. Liest man diese Ansammlung romantischer Themen, so assoziiert man als Erstes sicherlich andere Bilder und Gedanken als die mit der aktuellen elektronischen Musik aus Subkulturen. Dass es aber zwischen diesen beiden scheinbar unverträglichen Komplexen eine interessante, beachtenswerte Schnittmenge gibt, soll diese essayistische Darstellung beispielhaft demonstrieren.

Sehen wir auf Musik, die nach der romantischen Epoche (also grob seit Anfang des 20. Jahrhunderts) entstanden ist, so wird es immer wieder Fälle geben, in denen die eingangs erwähnten Schlagwörter gewissermaßen musikalische Übersetzungen finden. Zwar wird sodann zu mancher Zeit, an manchem Ort Romantik als veraltet und rückschrittlich abgelehnt, aber dennoch erlischt das Feuer dieser Haltung nie ganz. Klingt eigentlich auch ziemlich romantisch, oder? Es lohnt sich deshalb, noch ein weiteres Mal danach zu suchen, wie Musiker*innen diese Themen in ihrer Musik, mehr oder weniger bewusst, verarbeiten und ausleben. Dass dies außerhalb einer offiziell verkündeten Wiederbelebung der Romantik geschieht, versteht sich von selbst. Unseren Fokus richten wir dabei auf die gegenwärtigen Formen und Ansätze der elektronischen Musik, speziell auf die in Subkulturen. Hier lässt sich in den letzten Jahren vermehrt das Phänomen beobachten, dass sich die Verwendung romantischer Inhalte als musikalischen Gegenstand, als ein wiederholendes Stilmittel etabliert. Kann man hier womöglich einen Zusammenhang mit aktuellen Geschehnissen wie Klimawandel, Krieg oder drohender Rezession erkennen? Ob sich das als ein Beweggrund deuten lässt, bleibt offen, aber sicherlich nicht ausgeschlossen. Die Zukunftserwartungen jüngerer Generationen sind jedenfalls klar negativ von diesen Tatsachen beeinflusst und dominiert …

Beginnen wir also unsere Exkursion und lassen das queer-dominierte DJ Kollektiv namens Boygirl aus Bristol starten. Wie in elektronischer Musik üblich, wird gesampelt, was das Zeug hält. In diesem Fall sind es The Cardigans, die mit ihrem Titel Lovefool, die Grundlage dieses Schreis nach Liebe in einer kinematischen Ambient Landschaft bilden.

Bleibt man bei der Liebe, so passt dazu SENTIMENTENCIA von Dj Deejay aus Leipzig. Die chromatische Rückung funktioniert doch immer wieder, nicht wahr?

Natur spielt in der Romantik eine große Rolle. Die zahlreichen Ansätze, sich diesem Begriff musikalisch zu nähren sind immer wieder spannend, besonders aus heutiger Perspektive in einem technisch fortgeschrittenen Zeitalter. Nemorum Incola, lateinisch für „Bewohner des Waldes“, heißt das Intro des Albums Hesaitix welches von James Whipple alias M.E.S.H., eea und Hesaitix stammt. Der gebürtige US-Amerikaner lebt in Berlin, hat dort auf dem Label PANeinige Veröffentlichungen und ist zudem resident DJ der dortigen Veranstaltungsreihe Janus.

Nehmen wir an man besuchte eine solche Veranstaltung und hatte die Zeit seines Lebens, so untermalt Ivy’s six figures das traurig-schöne Schwelgen an diese Erinnerungen. Der Berliner mit einem Release auf dem Kölner Label SPA montiert die hier aufkommende Melancholie geschickt durch eine unermüdlich-sentimentale Akkordfolge, deren begleitenden Drumstruktur sich einem finalen Auslösen auf flackernde Art und Weise entzieht:

Intensiviert man Melancholie, ist eine mögliche Steigerung davon Musik von Réelle. Réelle alias Yannick Pozo Vento gebürtig aus Kuba, zuletzt lebend in Berlin waren Künstler*innen mit Releases unter anderem auf dem Wiener Label Ashida Park und dem Schweizer Label Danse Noire. Luciferian ist Teil des Albums Ghamccccxc vRR welches 2018 auf Danse Noireerschienen ist. Hier erkunden Réellenach eigenen Beschreibungen Schlüsselmomente vor und während ihrer ersten schizophrenen Psychose genauso wie den lateralen Geisteszustand, der durch diese Erkrankung verursacht wird: “Most of these sounds, as well as the album title, were created during psychosis without me consciously knowing what I’m doing. Therefore I also can’t remember when or why I wrote down Ghamccccxc vRR on a piece of paper.” Ihr Suizid im Jahr 2018 erschütterte die Szene stark.

In Fata Morgana macht Lee GambleTitel zum Programm. Nach klarem Ausblick in einer a-Moll-Ambient Landschaft (eigentlich mikrointervallisch versetztes es-Moll) wird nach folgender Zäsur die Sicht ruckartig durch merkwürdige Formen erschwert: In sich bewegende Ebenen versprühen sich wie Nebel im Raum und schieben sich in großen Gesten vor- und übereinander sodass diese zu komplexen Gebilden in der Luft verschmelzen. Wo ist oben? Wo ist unten? Selbst die vereinzelt unsicher schwankenden Irrlichter in Form von melodischen Einwürfen geben in diesen scheinbar endlosen Strukturen keine Chance auf Orientierung.

Lee Gambles musikalischen Ursprünge finden sich unter anderem im Jungle und als DJ bei Piratenradiosendern. Neben Releases auf Hyperdub und PAN betreibt der gebürtige Brite aus Birmingham sein Label UIQ, auf welchem beispielsweise Zuli oder Lanark Artefax im Katalog erscheinen. Fata Morgana erschien auf der EP In A Paraventral Scale, welche wiederum Fragment eines dreiteiligen Albums namens Flush Real Pharynx 2019-2021 ist:

Limerenz. Die Psychologin Dorothy Tennov beschreibt diesen Begriff als einen extremen Zustand des Verliebtseins: Unaufhörliches, geradezu aufdringliches Denken an die leidenschaftlich geliebte Person genauso wie das ständige Ersuchen nach Erwiderung der eigenen Gefühle. Zudem hat man Angst vor Ablehnung und erfährt eine beunruhigende Schüchternheit in Gegenwart der oder des Verehrten.[1]

Musikalische Annäherung soll dieses Konzept dem Titel nach im gleichnamigen Track Limerence erfahren, indem der in Miami geborene Sean Bowie alias Yves Tumor eine außergewöhnlich intime Hörsituation erschafft. Während die dauerhafte Präsenz eines warmen Synthesizer-Loops unerschöpflichen Reiz beweist, entfaltet der darüber gelegte (einseitige) Konversationsmitschnitt zwischen einem Liebespaar unvergleichbare emotionale Geborgenheit und Vertrautheit. “Look at the video, it’s recording right now. Bae!” Während man auf YouTube von Fans 16-minütige Extended Versions findet, sind es vor allem die unzähligen hochsentimentalen SoundCloud Kommentare, die von der balsamierenden Wirkung dieses Stücks zeugen. Limerence erschien auf der vielfach gefeierten Mono No Aware Kompilation von PAN – und spricht Bände. Überzeugt euch selbst …

https://soundcloud.com/pan_hq/3-yves-tumor-limerence-pan-77

Auf unserer Expedition in emotionaler Tiefe stoßen wir auf Beauts von Shygirl, einer britischen Rapperin, DJ und Singer-Songwriterin, die diesen Track auf der ersten Kompilation des Londoner Labels PDA veröffentlicht hat. Shygirls genrefluider Ausdruck – der sich ebenso auf ihrem mitgegründeten Label und Kollektiv NUXXE findet – entfaltet hier inmitten von trübseligen, digitalen Ambient-Jungle Atmosphären einen regelrechten Sog. Schwere Grooves entladen und schaukeln sich hoch zu majestätisch schwingenden Flügelschlägen, obgleich man doch in großen Kreisen abwärts schwebt …

Unten angekommen befinden wir uns in einem dunklen Loch, im Nichts: Worm Zero von Lulu erschien auf der VOID Kompilation des Pariser Labels High Heal. Die innere Leere der Musik füllt sich mit Schlinggewächsen, die die endlos hohen Wände emporarbeiten und zunehmend den eigenen Blick zum Flimmern bringen. Etwas benommen scheint es einem so, als dass die Zeit entgegengesetzt immer langsamer verläuft. Die Sicht friert ein und verwischt wie verbuggte Windows Programmfenster.

Schließt man die Augen und fühlt in den gehörten Musiken nach Romantik, so wird man sie entdecken können. Obgleich bei den meisten Stücken eine intendierte Zuordnung zum Themenkomplex Romantik schwer vorstellbar ist, geht es doch um die Tatsache, dass diese Inhalte immer wieder neue (unbewusste) Interpretationen erfahren – oft ganz unabhängig von einer gedanklichen Auseinandersetzung. Romantik wird es also immer irgendwie, irgendwo geben und sich klanglich, kompositorisch und dramaturgisch an die jeweiligen Zeiten und Techniken anpassen. Unser Feuer wird also nie vollkommen erlöschen, ganz gleich, ob es noch so einsam und allein in nächtlicher Ferne, unter silbrigen Mond in zarter Flamme glimmt …


[1] Tennov, Dorothy: Love and Limerence, Lanham, USA: Scarborough House, 1999, S. 23-25.

Leave a Reply