„NPR – Voice“

Modernes Kontrollsystem, oder nur ein Modetrend?

Wer Orwells „1984“ gelesen hat, kennt den Begriff: Neusprech – Ein Sprachsystem, das drastisch vereinfachtes Vokabular verwendet, um das Denken der Menschen zu steuern und sogenannten „Gedankenverbrechen“ vorzubeugen. Allgemeiner verstanden also eine Sprache, die den Menschen gezielt in eine Richtung lenkt, oder vielleicht auch eine bestimmte Reaktion auslösen möchte.


Neulich las ich einen Artikel in der New York Times <http://www.nytimes.com/2015/10/25/fashion/npr-voice-has-taken-over-the-airwaves.html?_r=0> von Teddy Wayne über das von ihm betitelte Phänomen der „NPR-Voice“. Eine bestimmte Art im Radio, Fernsehen, oder anderen Medien zu sprechen, oder vorzutragen. „NPR“ steht für „National Public Radio“ – das unabhängige Rundfunksystem in den USA, welches im Gegensatz zu kommerziellen Rundfunkanstalten, oder solchen mit parteipolitischer Agenda einen unabhängigen, aufklärerischen Anspruch hat. Teddy Wayne hörte den Sender „NPR“ als ihm diese Art zu sprechen erstmals auffiel – daher „NPR-Voice“.

Teddy Wayne beschreibt die „NPR-Voice“ als das von Sprecherinnen und Sprechern gezielte Einsetzen verschiedener Methoden, welche den Anschein erwecken lassen näher am Erzählten zu sein, es quasi direkt und ungefiltert zu erleben und „live“ davon zu berichten.
Es wird z.B. eine betont lockere Sprache mit langen Pausen verwendet. Zum Ende des Satzes wird die Stimme angehoben, als sei noch nicht klar, was folgt.
Ein Schein von spontaner Rede und echter Emotion wird erzeugt, fast als würde das Gesagte zum ersten mal gedacht.
In Wirklichkeit aber ist das alles einstudiert! Wirklich alles? Ja – jede Pause, jedes stottern, jede Überraschung in der Stimme.
Doch wozu das alles? Es scheint schließlich recht aufwendig so etwas Stück für Stück einzustudieren.
„Any story hits you harder if the person delivering it doesn’t sound like a news robot but, in fact, sounds like a real person having the reactions a real person would.” – Ira Glass (einer der Hauptsprecher des National Public Radio und einer der bekanntesten und ersten Nutzer der „NPR-Voice“)
Es schafft Nähe. Keine „echte“ Nähe, aber scheinbare Nähe. Das Publikum kann sich mit der Sprecherin / dem Sprecher identifizieren, es fühlt mit ihr mit und erfährt das Erzählte dadurch viel direkter. Oder zumindest wird ihm das weiß gemacht – denn schließlich ist ja alles genau so geplant gewesen. Durch die Nähe wird also Menschlichkeit und Verletzlichkeit suggeriert. Und damit schließlich ein größeres empathisches Potenzial freigesetzt.

Das Internet birgt zumindest einen, wenn nicht den eigentliche Ursprung dieses Phänomens. Direkter, ungefilterter, ehrlicher, unehrlicher und schneller als alle anderen Medien, die es vorher gab und noch gibt, setzt es den neuen Maßstab. Die User schreiben was sie denken, während sie denken oder auch nicht-denken.
Die „alten“ Medien wie Radio und TV wollen natürlich mit dieser neuen Unmittelbarkeit und „Echtheit“ des Internet mithalten und sie so gut es geht vermitteln. Vielleicht ein Grund für die Entstehung neuer Sprechtechniken wie der „NPR-Voice“.
„ […] the modern Internet, the most powerful linguistic relaxant outside of alcohol.“, so der Autor des NY-Times Artikel Teddy Wayne.

Zuerst war der Blog. Ein Hybrid aus „geschriebener und gesprochener Sprache“ (Maud Newton). Die Leute fingen an spontan zu schreiben und direkt zu veröffentlichen, ohne das Stadium der Reflexion über das Geschriebene zu erreichen. Den Höhepunkt erreicht dieser „Stil“ natürlich heute durch social media.
Dann kam der Podcast – und es wurde noch direkter. Heute kann jeder Podcasts machen, und viele tun genau das – völlig egal, ob trainierter Sprecher oder Laie. Menschen denken und sprechen live, improvisiert und direkt. Sozusagen der Jazz unter den Berichterstattungen. Also noch direkter und vor allem echter als die einstudierte „NPR-Voice“ je sein könnte.

In der Politik ist das Perfektionieren rhetorischer Mittel um möglichst viel Empathie auszulösen nichts neues. Neulich erst sah ich eine Rede von Barack Obama über das Waffengesetz in den USA. Als er über die Opfer der Polizeigewalt sprach, machte er längere Pausen je dramatischer es wurde und zeigte sogar eine Träne am Höhepunkt.
Ich möchte ihm nicht unterstellen, dass selbst die Träne geplant war, kann es aber ebenso wenig ausschließen.
Und was hat das alles jetzt mit „Neusprech“ zu tun? Die „NPR-Voice“ und vergleichbare rhetorische Systeme mit einem Mittel zur Gedankenkontrolle in einer fiktiven höchst dystopischen Zukunftsvision von George Orwell zu vergleichen, ist sicher übertrieben. Dennoch: Beeinflusst werden wir auf jeden Fall von solchen Methoden – wahrscheinlich mehr als die meisten von uns denken.
Beobachtet man Phänomene wie die „NPR-Voice“, liegt es jedenfalls nahe, immer wieder neu zu hinterfragen, welche Absichten hinter bestimmten Arten zu sprechen stehen.