„Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ von Kleist bis Warhol und zurück

Als Dramatiker, Lyriker und Schriftsteller verfasste Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (*1777) zahlreiche Werke. Dazu gehört auch sein Brief „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, den er an Otto August Rühle von Lilienstern verfasste.
Darin geht es um die Methode, seine Gedanken durch ein lautes Aussprechen neu strukturieren zu können. Komme man mit Meditation nicht weiter, so solle man mit dem nächstbesten Bekannten über seine Gedankengänge sprechen.

Denn ein lautes Aussprechen zwinge einen dazu, seine noch wirren Gedanken strukturieren zu müssen, so Kleist. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, wie klug das Gegenüber ist, oder wieviel Wissen derjenige zu dem Thema hat.
Ferner geht es Kleist nicht darum, den anderen mit Wissen, sondern sich selbst durch das Aussprechen zu belehren.
Warum funktioniert diese Methode?
Geist, Sprache, Gemüt, Gedanken – vier Faktoren, die zusammengehören und doch unabhängig voneinander sind.
Das Gemüt wird laut Kleist beim Erzählen erregt, z.B. durch Nachfragen des Gegenübers.
Man versucht daraufhin, „wie ein General“ seine Gedankengänge zu verteidigen. Auch die Mimik des Gegenübers kann seiner Ansicht nach dabei helfen, seine Gedanken zu vervollständigen.
So kann z.B. das Zucken der Oberlippe, oder das Spiel an der Manschette, wie es sich bei Mirabeau (*1715, französischer Schriftsteller und Philosoph) ereignet hat, das eigene Gemüt derart erregen, dass man dreist genug wird, um drauflos zu plappern.
Für Kleist funktionieren Geist und Sprache unabhängig voneinander. Wenn das, was man sagen wird schon vorher genau durchdacht ist, bleibt der Geist (hier: Gemüt) zurück, und wird im schlimmsten Fall gar nicht mehr erregt. Damit würde aber ein wichtiger Faktor für ein flüssiges Vortragen der Gedanken ausbleiben. Die Sprache ist für Kleist nur ein Werkzeug, um deutlich gedachte Gedanken nicht laut verworren zu äußern – deswegen sollten wir sie gut beherrschen. Kleist nennt den Übergang vom Denken zum Sprechen einen Geschäftswechsel, der sehr anstrengend sein kann.
Die Erregung des Gemüts kann sich unter Umständen auch nur auf das Festhalten der Gedanken beziehen, so dass sie beim eigentlichen Sprechen nicht mehr stattfinden kann.
So kann eine Erregung des Gemüts auf deutlich gedachte Gedanken hinweisen, auch wenn der Sprechende dabei stark ins Stocken gerät – oder sogar gerade dann. Denn wie Kleist schon wusste: „Nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unserer, welcher weiß“.
Einen fast gegenteiligen Effekt beschreibt Andy Warhol 1975 in „Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück“. Er gewinnt die Erkenntnis, dass beim lauten Aussprechen der Gedanken ein Phänomen eintreten kann, das eher einem Chaos anstatt einer sich neu findenden Struktur gleicht.
Die Merkwürdigkeit im Klang einer Silbe oder eines ganzen Wortes kann laut Warhol anstatt zu mehr Sicherheit in der Klarheit der Gedanken zu mehr Unsicherheit in Bezug auf die Richtigkeit eines Wortes führen.
Gelangt man aber dadurch zu der Sicherheit, dass der ausgesprochene Gedanke nicht richtig sein kann, so könnte man sich fragen, ob das beschriebene Phänomen vielleicht auch eine Form von Struktur darstellt – wenn auch eine andere als Kleist sie beschreibt…